Ich behaupte jetzt einfach mal:
Jeder Fotograf hat Lieblingsorte!
Orte, zu denen er immer wieder kehrt, da sie ihn faszinieren. Das können ganze Länder wie die USA bei z.B. Ansel Adams oder Robert Frank sein, Regionen wie zum Beispiel der Amazonas bei Sebastiao Salgado, Städte wie New York bei Joel Meyerowitz, Stadtviertel wie Montparnasse bei Man Ray oder das East Village in New York bei Saul Leiter, aber auch Straßen, einzelne Gebäude oder sogar ganz spezielle Ecken wie zum Beispiel Durchgänge, also mehr oder weniger lange tunnelartige Durchlässe zwischen oder in Gebäuden.
Ein Durchgang? Ja, solch ein Ort hat es mir angetan. Zwar hab ich natürlich noch viele weitere Lieblingsorte, aber dieser ganz spezielle Durchgang, den möchte ich euch vorstellen. Warum? Weil ich ihn eben magisch finde! Natürlich ist das sehr subjektiv, aber ich möchte daran zeigen, warum ein Motiv spannend sein kann und auf welche Details man als Fotograf achten kann.
Dann lasst uns dort doch gemeinsam mal vorbei schauen👉
Hier wären wir also, in den Straßen und Gassen der wunderbaren Stadt Verona. Er befindet sich in der Via Dante Alighieri hinter dem Mercato Vecchio und führt in den Innenhof, den Cortile del Tribunale des Palazzo Capitano, den man im Hintergrund erkennen kann.
Vor zwei Jahren war ich dort zum ersten Mal, als ich mit meiner Familie von unserem Urlaubsort Lazise am Garda-See mal wieder einen Ausflug nach Verona unternahm. Als wir dieses Jahr aufs Neue dorthin fuhren, wollte ich den besagten Durchgang unbedingt wieder finden - was mir nach eingem Suchen auch glücklicherweise gelang.
Das Foto oben ist von vor zwei Jahren und zeigt meine beiden "Großen", mein Sohn Nicolas war da noch nicht geboren. Insofern ist das also kein "echtes" street, da ich die beiden dazu genötigt habe die Szene zu bereichern. Außeredem ist es nicht ganz gut komponiert, da sich die Silhuetten der beiden berühren.
An dieser Stelle muss ich dann auch gestehen, dass einige meiner street-fotos nicht ganz echt sind. Oft verewige ich meine Kinder oder meine Frau in meinen Aufnahmen. Diese pics können also höchsten als street-portraits durchgehen.
Ich behaupte hier aber einfach mal, dass ich da kein Einzeltäter bin. Ich glaube, mindestens einige streets, die man auf diversen Plattformen voller Staunen bewundert, sind gestellt. Wie auch immer, an dieser Stelle könnte man jetzt die nie endende Diskussion darüber führen, was und wie denn street-fotografie zu seien hat. Ich für meinen Teil als Familienvater mit drei Kindern muss da immer mal wieder den einen oder anderen Kompromiss eingehen, auch wenn ich natürlich auch den Anspruch habe candid zu shooten.
Aber da bin ich mal an einem spannenden Ort, hab sehr wenig Zeit, weil ich die family nicht zu lange warten lassen will, möchte aber eine Person in einer Szene integrieren, obwohl weit und breit niemand ist - nun, dann müssen halt die Kinder oder meine Frau herhalten. Man mag es mir verzeihen.🙏🏻
Kommen wir also zum Wesentlichen. Warum gefällt mir dieser Ort so ausgesprochen gut, dass ich ihm einen eigenen Artikel widmen möchte?
Da wäre als Erstes zu nennen: das Licht! Fotografieren bedeutet ja Malen mit Licht. So hat Licht die Fähigkeit auch alltägliche Szenen zu interessanten, faszinierenden, ja magischen Bildern zu verwandeln. Andererseits führt fehlendes oder gar unpassendes Licht dazu auch außergewöhnlicheSzenen trivial erscheinen zu lassen. Hier ist nach meinem Dafürhalten ganz klar Ersters der Fall.
Die Art und Weise wie das Licht die Wände und den Boden zum Leuchten bringt, hat mich sofort begeistert, als ich zum ersten Mal dort war. Vor allem die schimmernde Textur der Wände zog mich gleich in ihren Bann!
Aber auch die klassische Architektur mit ihren übereinander und hintereinander angeordneten Deckenbögen tragen zur Atmosphäre dieses Ortes bei, und auch diese werden vom Licht zum Leuchten gebracht.
Zudem dienen die Fugen der Bodenplatten als Führungslinien, die den Blick zum Hauptmotiv weisen, was man in den folgenden Bildern besser erkennen kann.
Der helle Hintergrund des Innenhofs lässt die Hauptmotive als Silhouetten erscheinen, was natürlich gewollt und ein weit verbreitetes Stilmittel in der (Street)-Fotografie ist.
Die unteren Fenster des hinteren Gebäudes nehmen das Thema des Bogen nochmals auf.
Die mittlere Linie der Bodenfugen wird an der Hauswand des hinteren Gebäudes ebenfalls mittig durch die Dachrinne fortgesetzt.
Auf diesem Bild kann man sehr gut erkennen, wie die Führungslinien auf den Boden den Blick zum Hauptmotiv, in diesem Fall eine Taube, weisen. Nicht nur Menschen, oft sind es auch Tiere, die einem street-foto den entscheidenden Touch geben können. Die Taube läuft in exakter Verlängerung der mittleren Linie. Die äußeren Linien führen jeweils aus den unteren Ecken ins Bild.
Hier ist es eine junge Frau, die als Hauptmotiv dient. Interessant ist an ihr die Körperhaltung und ihre schwarze Kleidung, die im Kontrast zum hellen Hintergrund steht. Lichtet man Menschen in Bewegung ab und von der Seite, so ist es vorteilhaft, wenn sie mitten in der Schrittbewegung sind. Das verleiht der Aufnahme eine gewisse Dynamik. Ebenso die Haltung ihrer Arme, die ein wenig unnatürlich erscheint, weckt das Interesse des Betrachters. Auch hier führen die Linien wieder direkt ins Bild und auf das Hauptmotiv zu. Schön wäre es gewesen, wenn ich die Dame genau zwischen den Fenstern "erwischt" hätte, aber auch so find ich sie einen spannenden Part auf der Bühne.
Bühne?
Ja, das ist ein weiterer Aspekt dieses Ortes. Eine Technik der street-fotografie ist das sogenannte "fishing". Das bedeutet, dass man einen interessanten Ort gefunden hat und an diesem fischt, also wartet bis etwas Interessantes passiert oder eben ein spannender Charakter die Szene betritt. Viele Street-Fotografen warten manchmal stunden-, tage-, wochen- oder sogar monatelang (natürlich nicht permanent🤣) auf den richtigen, den decisive momemt, wenn genau das eine, genau passende, fehlende Element eine Szene zu einem einzigartigem Foto macht. Ich stellte und kniete mich also an den Eingang und machte erst ein paar Probeaufnahmen. Die Lichtverhältnisse sind ja hier nicht gerade einfach und so musste ich erst einmal die Kamera-Einstellungen justieren.
Zu diesem Zeitpunkt fotografierte ich mit einer Leica Q, also einer Vollformat-Kamera mit einem überragenden Objektiv und hohen Dynamik-Umfang. Leider passte diese Traum – Kamera nicht zu mir. Sie war mir mit ihren 28mm schlussendlich einfach zu weitwinklig, gerade für Portraits meiner Familie. Und so stieg ich dann recht schnell auf die "Leica des armen Mannes" um: die Fuji X 100 V. Die ist zwar auch nicht wirklich günstig, aber ich bin absolut glücklich mit ihr.
Nach diesem kleinen Equipment-Abstecher komme ich aber nun wieder zurück zur Szene.
Der Vorteil des Fishings ist, dass man von vielen Menschen gar nicht mehr wirklich wahrgenommen wird, wenn man einige Zeit an einem Ort verweilt. Viele denken dann auch gar nicht, dass sie das Interesse des Fotografen sind. So laufen sie entweder an einem vorbei oder auf einen zu in der Annahme gar nicht relevant zu sein. Sind viele Menschen an einem Ort, so fällt es zudem leicht, in der Menge sozusagen zu verschwinden. So war es auch hier. Menschen liefen an mir vorbei und ich fotografiere sie dann von hinten als Silhouette am anderen Ausgang. Oder sie kamen auf mich zu, und ich tat so, als würde ich darauf warten, bis sie Szene wieder verlassen haben. Bei dieser Technik hilft das unglaublich leise Auslösegeräusch der Fuji, denn bis auf mich bekommt wirklich niemand mit, wann ich die Kamera auslöse.
Und nun ein aktueller Exkurs:
Als ich am heutigen Sonntag etwas Zeit für eine Radtour hatte, entschied ich mich mal wieder zum Schloss Solitude bei Stuttgart zu fahren. Durch den Haupt-Trakt des Schlosses führt ein, na was wohl, Durchgang. So wollte ich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen und nicht nur etwas Sport treiben, sondern vielleicht auch mit ein paar schönen Aufnahmen zurückzufahren. Doch leider war heute sehr wenig los und niemand lief durch. So experimentierte ich ein wenig mit meinem iphone 14pro ( meine x hatte ich natürlich nicht dabei, was wieder einmal zeigt, dass die Kamera die beste ist, die man dabei hat.) um eine passende Einstelung zu finden. Als ich eine Weile gewartet hatte, wurde ich dafür tatsächlich belohnt. Ein Hochzeitspaar, welches für eine Fotosession das Schloss besuchte, entschied sich für eine andere location und wählte dafür "meinen" Durchgang. Netterweise ließen sie und ihr Fotograf sich rein gar nicht von mir stören und so kam ich dann doch noch zu einigen schönen Aufnahmen. Eine davon möchte ich euch hier zeigen:
Mir gefallen die scherenschnittartigen Silhouetten des Brautpaares und ihre Körperhaltung.
Zudem finde ich es interessant sie dabei zu fotografieren wie sie fotografiert oder gefilmt werden.
Die Kamera auf dem Gimbal dient noch als weiteres interessantes Element, finde ich.
Die Kette im Vordergrund gibt dem Bild zudem eine weitere Ebene und zusätzliche Tiefe.
Um die Kette ins Bild zu integrieren, musste ich die Kamera ziemlich tief halten, was dann auch zu einer interessanten Perspektive führte.
Zudem gefällt es mir, wie die Pfosten links und rechts schimmern.
Und auch die Wolken geben Dem Foto noch zusätzlich Tiefe.
Für mich ist das ein sehr gelungenes street-foto!
Auch hier war ein fish-Zug erfolgreich. Man erkennt eine interessante Szene und wartet, ob ein oder mehrere spannende Schauspieler die Bühne betreten - und wird oft, aber nicht immer belohnt. Jeder Fotograf muss dann selbst entscheiden, wie lange er warten möchte. Aber viele berühmte Fotografen erzwingen so ihr "Glück", indem sie einen sehr hohen Zeitaufwand betreiben und viele Tage unzählige Stunden in den Straßen verbringen und an einem spot auch mal Stunden verbringen.
Zurück zu unserer Szene in Verona.
Meine Familie wollte ich natürlich dort auch ablichten. Schön finde ich, wie je eine Führungslinie auf eine Person zuläuft. Und da es an diesem Tag immer mal wieder leicht genieselt hatte, fand ich den Schirm, den wir dabei hatten, als Accessoire recht passend. Die Silhouetten sind gut sichtbar voneinander getrennt und haben links und rechts den selben Abstand zum Durchgang. Auch, dass meine Tochter und meine Frau jeweils etwas leicht nach links und rechts abgewickelt stehen, trägt zu Symmetrie des Bildes bei.
Kommen wir nun aber zu meinem fotografischen highlight. Das Foto, das ich von dieser Serie auswählen würde:
Auch hier spielt wieder ein Regenschirm mit. Dieses Foto ist aber nicht gestellt - ist also ein echtes street. Die Frau lief an mir vorbei und ich wusste sofort, dass sie das passende Motiv ist, welches zu meiner Szene passt.
Was dem Foto aber den entscheidenden Touch gibt, ist die zweite Frau mit Schirm im Hintergrund. Sie verleiht der Szene eine weitere Ebene und noch mehr Tiefe.
Beide Frauen sind zudem mitten in der Schrittbewegung.
Gut gefällt mir auch der Schatten der Frau im Durchgang.
Im Vergleich zu den obigen Aufnahmen war ich hier etwas näher dran, ich finde die Komposition jedoch so ausgewogen.
Der Kopf der Frau befindet ziemlich genau an der Schnittstelle der (gedachten) oberen und linken Drittel-Einteilungs-Linie und auch fast exakt zwischen zwei gegenüber liegenden Bögen.
Drei wichtige Aspekte eines gelungenen Fotos sind hier also meiner Meinung nach gegeben:
Durchgänge oder auch Passagen, Arkaden, Treppenstiege oder Tunnel können also spannende spots sein. Oft wegen den interessanten Lichtverhältnissen, der Linienführung, dem Schattenspiel und natürlich auch den Menschen, die durch sie laufen.
Ein Beispiel dafür habe ich noch zum Schluss: wir waren dieses Jahr während unseres Garda-See-Urlaubes das erste Mal in Brescia. Die Stadt ist gekrönt von einer imposanten Festungsanlage. Dort fand ich viele spannende foto-spots, unter anderem auch einen Tunnel, der in die Festung hinein führte. Ich war ich von der Atmosphäre fasziniert und in Ermangelung anderer Menschen bat ich meine Tochter mit in die Szene zu kommen.
Was mir unheimlich gut gefällt ist auch hier wieder das Licht, das die Steinwände zur Geltung bringt, aber auch die verschiedenen Bögen, die dem Bild Tiefe verleihen. Ich wollte, dass meine Tochter genau an dieser Stelle steht, da sie so als Silhouette vor dem hellen Ausgang gut zur Geltung kommt. Leider kam meine x100v bei diesen Lichtverhältnissen an ihre Grenzen und ich hatte nicht genug Zeit, eine exakt passende Einstellung zu finden. Ich musste deswegen das Foto im Nachhinein recht stark bearbeiten, bis es mir abschließend gefiel. Aufgrund des großen Kontrastes wirkt es dafür aber recht mystisch.
Ich hoffe, euch hat der kleine Ausflug in die Atmosphäre der Durchgänge gefallen und vielleicht auch ein wenig inspiriert.
Wie immer: liebe Grüße, bis bald und schreibt gerne Kommentare, wenn ihr mögt.
Euer Holger
P.S. ich weiß, viele von euch schauen sich meine Beiträge auf dem smartphone an. Auf einem größeren Bildschirm kommen die Fotos aber deutlich besser zur Geltung. Nur so ein Gedanke😉
P.P.S.: eine weitere Idee für#2 habe ich schon😉👋
Toll geschrieben! Bei mir sinds Märkte! (https://blitzeria.eu) :)